Impulsvortrag von Dr. Christian Lüders auf der 100+1 Jahre Feier – LVkE am 15.06.2021 in München

Veränderungen und Herausforderungen in der Kinder- und Jugendhilfe – Wer und was steht im Mittelpunkt?

Anrede,
Allem voran: Herzlichen Glückwunsch persönlich wie auch im Namen des LJHA zu 1O0 + 1 Jahren LVkE. Man muss die Gelegenheiten feiern, wie sie kommen. Deshalb auch heute noch: Alle gute Wünsche für das Jubiläum, herzliche Gratulation für eine lange erfolgreiche Geschichte und alle erdenklich guten Wünsche für die Zukunft.

Es ist angesichts dieser Geschichte eine Ehre für mich, in diesem Rahmen ein paar Bemer-kungen zu Veränderungen und Herausforderungen der Kinder- und Jugendhilfe aus meiner Sicht beitragen zu dürfen. Herzlichen Dank für die Einladung.

Es ist natürlich misslich, dass die Geburtstagsfeier zum 100. im letzten Jahr ausfallen musste; ich gestehe allerdings, dass die Verschiebung mir die Aufgabe erleichtert hat. Gegenüber der Lage vor einem Jahr ist heute die Sicht zumindest an einigen Stellen sehr viel klarer.

Ich nenne nur drei Punkte, denen ich mich im Folgenden ausführlicher widmen möchte:

  • Erstens: Auch wenn das Thema Corona noch lange nicht erledigt sein wird, so schaffen nicht nur die aktuell sinkenden Inzidenzzahlen und die damit einhergehende schrittweise Ermöglichung der früheren Freiheiten endlich Distanz zu den bleiernen Wochen des Lockdowns, sondern auch die Chance, erste Bilanzen zu ziehen, zu lernen und sich den Folgen zu widmen.
  • Zweitens: Mit der Verkündung des KJSG gibt es eine neue gesetzliche Grundlage mit einer Fülle von Herausforderungen und wir müssen beginnen, die gesetzlichen Vorgaben in Fachpolitik und -praxis umzuwandeln.
  • Drittens: Am Freitag letzter Woche hat der Deutsche Bundestag das GaFöG beschlossen. Nun müssen wir abwarten, wie der Bundesrat entscheidet; ggf. müssen wir uns auch mit diesem Gesetz und seinen Implikationen befassen.

Erlauben Sie mir ein paar Anmerkungen zu diesen drei Themen.

Ad (1) Corona und die Folgen
Widmet man sich zunächst dem Thema Corona und die Folgen aus der Sicht der Kinder- und Jugendhilfe, rücken neben vielen anderen Aspekten m. E. drei Themen in das Zentrum der Aufmerksamkeit:
(a): Die Folgen für Kinder, Jugendliche und ihre Familien
Nachdem bis zum Anfang diesen Jahres sich kaum jemand für die Folgen von Corona und des Lockdowns auf Kinder und Jugendliche interessierte, man sich bestenfalls Sorgen um die Schulleistungen machte, erleben wir nun eine völlig andere Debatte, in der wir Woche für Woche mit neuen Alarmmeldungen versorgt werden: Vereinsamung, schulischer Leistungs-abfall, übermäßiger Medienkonsum, Essstörungen, Depression, vermehrte Gewalt und sexueller Missbrauch (und das alles in Form von nicht abschätzbaren Spätfolgen), sind nur ein paar der Stichworte, die nicht selten in der – m. E. gänzlich unverantwortlichen und sehr generalisierenden – Rede von der „verlorenen Generation“ münden. Kinder- und Jugend-ärzte, Pädiater, Krankenkassen, Beratungsstellen aller Art, Kinderschützer und viele andere einschließlich der Medien und Forschung geben sich große Mühe, sich gegenseitig mit Alarmmeldungen zu überbieten: Jedes dritte Kind und jeder dritter Jugendliche seien mitt-lerweile aufgrund Corona verhaltensauffällig.

Die damit anklingende Zurückhaltung gegenüber dem aktuellen (fach-) öffentlichen Diskurs will selbstverständlich nicht die Probleme verschwinden lassen. Wir müssen davon ausge-hen, dass Gruppen von Kindern und Jugendlichen durch den Lockdown erheblichen Belas-tungen und Gefährdungen ausgesetzt waren und in vielfältiger Weise Opfer geworden sind. Und es kann auch nicht bestritten werden, dass die Art, der Grad und die mittelfristigen Fol-gen der Belastungen etwas mit sozialer Ungleichheit und den verschiedenen Formen der Benachteiligung zu tun haben.

Worauf ich allerdings hinweisen möchte, ist, dass die Belastungen nicht nur ihrer Art nach sehr unterschiedlich waren, sondern sie wurden auch unterschiedlich erfahren.

Zugleich verfügen wir in der Summe noch viel zu wenig über belastbares Wissen – was übrigens m. E. auch in der Sache selbst begründet liegt, denn über die mittelfristigen Aus-wirkungen des Lockdowns werden wir erst mit der Zeit näheres begründet sagen können.

Es ist deshalb aktuell immer wieder auch hilfreich, sich die Quellen und Datengrundlagen genauer anzusehen. Allzu oft wird man dabei feststellen, dass nicht wenige offenbar sehr schnell bereit sind, jüngere Entwicklungen Corona und dem Lockdown zuzuschreiben, dass aber bei genauerer Hinsicht der Zusammenhang gar nicht so klar ist. Zudem basieren viele Einschätzungen eher auf kleinräumigen Beobachtungen, haben also bestenfalls eine anekdo-tische Evidenz, die aber locker für das Ganze ausgegeben wird.

Gegenwärtig jedoch scheint es mir ratsam, erst mal noch genauer hinzusehen, wer in wel-cher Form wie belastet war und ist, welche Folgen dies aktuell und mittelfristig jeweils mit sich bringt und welche Förder- und Unterstützungsbedarfe sich abzeichnen. Das ist einerseits eine Forschungsfrage, andererseits eine Praxisaufgabe. Das beginnt schon mit Vokabular (handelt es sich immer um Traumatisierungen oder andere pathologische Phänomene, ist es angemessen die Folgen der Pandemie in Kategorien der Katastrophenforschung zu beschrei-ben?).

Für die Kinder- und Jugendhilfe bedeutet dies eine neue Aufgabe: Corona und der Lockdown und alles, was damit zusammenhängt, waren und sind in der jüngeren Geschichte der Bun-desrepublik einzigartig. Auch wenn vieles scheinbar, aber eben nur scheinbar, auf der Hand zu liegen scheint, so ist es doch erst einmal notwendig, wenn die Angebote wieder hochge-fahren werden, genau hinzusehen und vor allem Kindern und Jugendlichen und ihren Eltern genau zuzuhören. Die Erfahrungen müssen sichtbar gemacht werden, zur Sprache gebracht werden und wir müssen auf die sprachlosen Erfahrungen achten. Vor diesem Hintergrund kann man die aktuelle LVkE-Kampagne „Fragt doch mal uns!“ nur begrüßen. Dafür braucht es entsprechende sensible Arrangements und vor allem die Bereitschaft zuzuhören und dann wird sich zeigen, ob es ggf. tatsächlich neu zugeschnittene Angebote bedarf.

(b) Lernen aus den Erfahrungen
Jenseits der Diskussionen der letzten Monate, wann welche Angebote hätten geöffnet werden sollen, ist es aus meiner Sicht geboten, selbstkritisch Bilanz zu ziehen.
Ich will das kurz machen und nenne nur drei Punkte:

  • Trotz aller erreichter Fortschritte und etablierter Standards: Corona hat gezeigt, dass Beteiligung junger Menschen offenbar doch noch nicht selbstverständlich ist. Min-destens hat sich dieser Anspruch als nicht sonderlich krisenfest erwiesen. Und schon wieder muss man die LVkE-Kampagne loben, aber zugleich betonen, dass sich hier eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe verbirgt. Bayern hat sich auf die Fahnen ge-schrieben, ein übergreifendes Konzept zur Stärkung der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen – übrigens unter Beteiligung von Kindern und Jugendlichen – zu erar-beiten. Das ist ein erster wichtiger Schritt. Es wird darum gehen, dieses dann auch mit Leben zu füllen.
  • Damit teilweise eng zusammenhängend muss das Thema Digitalisierung aufgerufen werden. Nicht nur weil Beteiligung ohne die vielfältigen digitalen Formate gar nicht mehr gedacht werden kann, sondern auch weil der Lockdown einen schmerzhaften Schwachpunkt innerhalb der Kinder- und Jugendhilfe aufgedeckt hat: den enormen Nachholbedarf im Bereich der digitalen Infrastrukturen und der Kompetenzen mit den verschiedenen Tools umzusehen.
  • Und schließlich: Corona und der Lockdown haben uns alle gezwungen, den Alltag innerhalb kurzer Zeit komplett umzukrempeln. Das gilt auch für die Fachpraxis. Jetzt reift die Zeit für erste Bilanzen. Meine These wäre, dass diese praxisfeldbezogen zu erfolgen hätten, weil die Erfahrungen in den stationären Einrichtungen doch erkenn-bar andere waren als in der Kindertagesbetreuung oder der offenen Jugendarbeit, der ambulanten Kinder- und Jugendhilfe bzw. dem Kinderschutz. Notwendig ist aus meiner Sicht eine nüchterne Analyse, welche Erfahrungen die KJH in ihren Praxisfel-dern während des Lockdowns gemacht hat, wo die Probleme lagen, was ggf. auch überraschender geklappt hat und welche Konsequenzen daraus für die Zukunft zu ziehen sind – denn Corona wird uns noch eine Weile erhalten bleiben.

 

(c) Die Defizite der öffentlichen Haushalte
Die Bekämpfung von Corona hat aufseiten der öffentlichen Haushalte auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene zu einer massiven Neuverschuldung geführt – und es ist zu befürchten, dass das Ende noch nicht erreicht ist. Wir werden das in den nächsten Jahren zu spüren bekommen. Gleichzeitig stehen mit dem KJSG und – ggf. – dem GaFöG neue Kosten ins Haus. Im Fall des KJSG wissen wir, dass die im Gesetzentwurf angegebenen Kosten 12,5 Millionen Euro im Zeitraum bis Ende 2027 ein Witz sind und auch im Fall des GaFöG können wir davon ausgehen, dass die bislang bereitgestellten Gelder mittelfristig nicht reichen wer-den. Während der Debatte im Deutschen Bundestag am Freitag wurde wiederholt darauf hingewiesen, dass es nun auf Länder und Kommunen ankomme. Diese Konstellation wird uns in den nächsten Jahren vor allem bei der Umsetzung des KJSG und des GaFöG und bei allen Debatten um die fachliche Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe begleiten.

Ad (2) KJSG
Nachdem nun das KJSG verkündet ist, komme ich nicht umhin, wenigstens ein paar der sich abzeichnenden Herausforderungen zu benennen.

  • Es ist aus meiner Sicht gut und richtig, dass sich der Gesetzgeber endlich die Weichen gestellt hat, Inklusion im Kontext der KJH ernsthaft auf den Weg zu bringen. Das KJSG enthält dazu eine Reihe von neuen Aufgaben; wesentliche Teile der Umsetzung müssen aber erst noch gesetzlich regelt werden. Derzeit ist vorgesehen, dass bis Ende 2027 ein entsprechender Gesetzentwurf vorliegen soll. Spätestens ab 2024 sollen die Verfahrens-lotsen arbeiten. Schon höre ich die Stimmen, die dafür plädieren, sich erst mal Zeit zu lassen und die wissenschaftliche Begleitung bzw. den Bericht an den Bundestag abzu-warten.
    Derartigen Neigungen widerspreche ich ausdrücklich. Die inklusive Öffnung bringt derart viele Herausforderungen mit sich, dass wir – also Kinder- und Jugendhilfe und Einglie-derungshilfe gemeinsam – sofort beginnen müssen, die Implikationen der vorliegenden Regelungen zu diskutieren und ggf. Modellprojekte zu starten, um Erfahrungen zu sam-meln (z. B. Verfahrenslotsen, Mitwirkung Hilfeplanung). Und schließlich sollten wir nicht auf einen Gesetzentwurf warten, sondern proaktiv diskutieren, wie wir uns in Bayern unter den spezifischen Bedingungen der Bezirke eine inklusive Öffnung vorstellen kön-nen. Ich möchte nicht auf die sogenannte prospektive Gesetzevaluation warten, um eine Idee zu haben, wie man Inklusion im SGB VIII gestaltet.
  • Der neue § 9 (Ombudsstellen), § 3a (Schulsozialarbeit), § 45a (Legaldefinition Einrich-tung) § 4 KIGG (Befugnis zu einem fallbezogenen interkollegialen Austausch zwischen Ärztinnen und Ärzten in Kinderschutzfällen) sind Beispiele, für die das KJSG Regelungen auf Landesebene vorsieht bzw. ermöglicht. Neuregelung wie der § 10a (Beratung), der § 20 (Betreuung und Versorgung des Kindes in Notsituationen), § 41 (Hilfe für junge Volljährige / careleaver) und § 41a (Nachbetreuung) sind nur ausgewählte Beispiele, die Fachdiskussion und Fachpraxis in den Praxisfeldern und auf Landesebene fordern wer-den. Mit anderen Worten: Wenn auch von Praxisfeld zu Praxisfeld je unterschiedlich werden Freie Träger und ihre Verbände sowie insbesondere die Jugendämter und die Fachdiskussion in den nächsten Jahren intensiv damit befasst sein, die Regelungen des KJSG umzusetzen und nach gangbaren Wegen zu suchen.

 

Ad (3) GaFöG
Unabhängig davon, wie man zu dem Gesetz steht, ob man die Regelung im SGB VIII für sinnvoll hält, sind zwei Dinge aus meiner Sicht absehbar, sollte es im Bundesrat beschlossen werden:

  • Erstens wird es landesrechtlichen Regelungsbedarf geben und dabei wird allem vor die Qualitätsfrage im Mittelpunkt stehen. Aus meiner Sicht konnte der Bund gar nicht anders, als auf weitergehende Festlegung von Qualitätskriterien zu verzichten. Das ist zwar vielfach beklagt worden, hätte m. E. aber das ganze Unternehmen ge-fährdet und wäre auch verfassungsrechtlich heikel gewesen. So bleiben zwei Optio-nen: Es wäre denkbar, dass mittelfristig analog dem sogenannten „Guten-Kita-Ge-setz“ ein weiteres Bundesgesetz, das mit den Qualitätsfragen im Ganztag an der Grundschule befasst nachgeschoben wird. Ich halte dies alles aus viele Gründen für unwahrscheinlich. Ergo bleiben nur die Länder, die sich ja zu Teilen schon auf den Weg gemacht haben.
  • Zweitens wird der Rechtsanspruch einen größeren Sog auslösen – bezogen auf das Personal und die finanziellen Ressourcen. Der Ausbau wird, weil mit einem Rechts-anspruch versehen, Vorrang haben. Ich verzichte jetzt darauf, mir auszumalen, was dies im Horizont der zuvor angesprochenen verschuldeten öffentlichen Haushalte einerseits und der skizzierten fachlichen Weiterentwicklungsbedarfe – vor allem mit Blick auf Inklusion – andererseits bedeutet. Ich gestehe aber, dass ich die Sorgen und Warnungen, die derzeit vor allem vonseiten der Kommunen und der Länder geäußert werden, nachvollziehen kann.

 

Von Ernst Bloch stammt die wunderbare Formulierung, dass man in das Gelingen ver-liebt sein muss, nicht in das Scheitern. Das scheint mir eine Haltung zu sein, die der LVkE und seine Mitarbeitenden die letzten 101 Jahre trotz vielfältiger, teilweise gravierender Herausforderungen erfolgreich gelebt haben. Angesichts der skizzierten Herausforde-rungen, die auf uns alle in der bayerischen Kinder- und Jugendhilfe warten, scheint mir dies auch zukünftig ein guter Ausgangspunkt zu sein. Und wenn es uns dann noch ge-lingt, Kindern und Jugendlichen eine Stimme zu geben und sie zu beteiligen, gemeinsam die offenen Fragen mit einer gewissen Portion Gelassenheit fachlich zu diskutieren, dann sind wir alle auf einem guten Weg. In diesem Sinne Ihnen alle guten Wünsche zum Jubiläum und für die Zukunft.