Predigt beim Festgottesdienst zur 101-Jahr-Feier des LVkE e.V.
„Halten Sie die Ohren und die Herzen auf – für die Kinder und Jugendlichen“
Reinhard Kardinal Marx, Erzbischof von München und Freising:
Predigt beim Festgottesdienst zur 101-Jahr-Feier des LVkE e.V.[1]
München, 15. Juni 2021
Biblische Lesungen:
2 Kor 8,1-9
Mt 5,43-48
Liebe Brüder und Schwestern –
hier in der „Kirche der Jugend“ und überall da, wo Ihr mit uns verbunden seid über die Medien!
Besonders grüße ich die Kinder und Jugendlichen in den Einrichtungen, die den Gottesdienst und den Festakt mitverfolgen: Seid herzlich gegrüßt!
Ich wünsche Euch, dass Ihr durch dieses Jubiläum noch einmal Schwung bekommt, auch in Euren Einrichtungen, in den Begegnungsstätten, da wo die Arbeit konkret stattfindet. So ein Festakt ist eine schöne Unterbrechung, aber nicht die eigentliche Alltagsarbeit.
Es ist eine alte Frage, wie die Wechselwirkung passiert zwischen christlichem Glauben im Evangelium und der Gesellschaft, der sie umgebenden Kultur. Herr Prälat Piendl hat eben davon gesprochen, von der christlichen Prägung, die gerade nach den 20er Jahren wiederaufgekommen ist, eine neue Bewegung. Aber so einfach ist es meistens nicht. Wir denken natürlich immer gerne von uns in Erfolgsgeschichten: wir haben geprägt, wir waren stark, wir waren gut – waren wir auch oft. Aber nicht immer.
Umgekehrt gibt es die Prägung auch, aus der Gesellschaft und aus der Kultur hin zum Leben und Wirken der Kirche. Das Zweite Vatikanische Konzil hat das gesagt, und einige haben es bis heute nicht begriffen, dass die Kirche auch aus der Gesellschaft lernt, aus der Wissenschaft lernt. Sie [die Anwesenden, Anm. der Redaktion] wissen es besser: ein Stichwort ist Professionalisierung oder im Gegensatz dazu eine mangelnde Ausbildung, wie sie auch festzustellen war. Die Entwicklung auch an Erkenntnissen, was Erziehung und Pädagogik bedeuten, hat in 100 Jahren einen gewaltigen Fortschritt gemacht.
Es ist also ein Wechselverhältnis von Gesellschaft, Kultur und Glaube, Religion. Wichtig ist, dass wir in unserer Arbeit, besonders in der caritativen Arbeit, gerade in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, im Blick behalten, wo das ist, was vom Evangelium her das Besondere ist, was uns eigentlich hilft, das einzubringen, was von uns herkommt. Da können wir schon sagen, dass in der Geschichte des Abendlandes durch das Evangelium ein neuer Ton hineingekommen ist. Nicht immer sind wir auf dem Niveau dieser Melodie. Deswegen ist es wichtig, sich an den zu erinnern, dessen Namen wir tragen: an Jesus von Nazareth. Er hat die Kinder und Jugendlichen gesehen, die damals am Rande standen. Sie waren damals nicht wichtig, weder für die antike Gesellschaft noch für andere Kulturen; als Erwachsener gelte man etwas, Kinder und Jugendliche seien „kleine Erwachsene“, erst wenn sie erwachsen sind, sollen sie im Grunde ernst genommen werden. Jesus hat so nicht gehandelt! Das haben schon die Zeitgenossen bemerkt, wie wir in der Lektüre des Evangeliums sehen, dass da ein Mensch ist, der anders handelt im Blick auf Kinder und Jugendliche. Und deswegen ist es immer wieder so wichtig, vom Niveau Jesu auszugehen und kritisch auf den Zeitgeist zu schauen – damals und heute.
Manchmal sage ich etwas provozierend: Hätten wir uns vorstellen können, dass Jesus Kinder geprügelt hat? Wohl kaum! Oder Johannes Bosco? Nicht vorstellbar. Und doch ist so etwas auch in unseren Einrichtungen geschehen. Wie ist das möglich? Man fragt sich, warum können wir die Spur Jesu nicht halten? Und zudem die Professionalität einbeziehen, Neues erkennen, auch aus der Zeit, aber nicht einen Zeitgeist, wie es eben alle tun, weil es so üblich war, übernehmen. Das gilt damals und heute. Das gilt immer.
Manchmal wird mir vorgeworfen, ich sei so zeitgeistig. Nein, es geht nicht darum, zeitgeistig zu sein, sondern: die Zeit zu lesen im Licht des Evangeliums und zu erkennen, was gut ist, was an Erkenntnissen da ist, was an neuen Möglichkeiten da ist, was an neuen Nöten da ist, was an neuen Herausforderungen da ist. Und das dann auch professionell zu erarbeiten, ja, aber immer mit dem Blick Jesu, mit dem Blick vom Evangelium her. Und dann haben wir Kriterien, wo wir uns auf keinen Fall anpassen wollen, wo wir uns auf keinen Fall auf eine Spur begeben wollen, der alle irgendwie folgen, aber der wir nicht folgen.
Und deswegen bleibt auch bei so einem Jubiläum der Blick in die Vergangenheit wichtig, und ich möchte Sie dazu ermutigen, auch in den Einrichtungen, im Caritasverband, im Landesverband der kirchlichen Einrichtungen, diesen Blick nicht zu unterlassen. Die Aufarbeitung auch der dunklen Seiten unserer Geschichte ist nicht zu Ende, ist nicht einfach abgeschlossen durch den „Fonds Heimerziehung“, in dem Bund, Länder und die Kirchen mitgewirkt haben. Gott sei Dank! Spät genug war es.
Aber die Aufarbeitung in den einzelnen Einrichtungen, der Blick in die Geschichte, das können wir nicht einfach beiseiteschieben. Erst wenn wir hinsehen, wird der Blick auch frei für das, was an Großartigem geleistet wurde; sonst bleibt er getrübt und nicht ehrlich, nicht glaubwürdig. Dazu möchte ich Euch ermutigen!
Es laufen ja auch die Diskussionen mit der Staatsregierung um die Erinnerungskultur. Das ist noch nicht ganz beendet, aber wir werden uns auch daran beteiligen. Das ist ja gar keine Frage. Für uns muss das zum Impuls werden: Was gilt eigentlich für uns heute? Was ist daraus zu lernen? Auf jeden Fall: sich nicht einfach „billig“ an das anzupassen, was alle anderen auch tun, sondern professionell, ja, aber mit dem Blick des Evangeliums, zu handeln.
Ich finde das Motto des Jubiläums wunderbar: „Fragt doch mal uns!“ Hätten wir das nur immer wieder getan. Ich weiß nicht, ob das vor 50, 60 Jahren üblich war, ob ein solches Motto damals von allen wunderbar gefunden worden wäre. „Fragt doch mal uns!“ – Fragt doch mal die Kinder, fragt uns Jugendliche, was wir brauchen, wie es uns geht, was wir ersehnen, was unsere Hoffnungen sind. „Fragt doch mal uns!“ Ein schönes Motto. Ich finde das gut und ermutigend, denn die Botschaft des Evangeliums sagt uns ja: Jeder Mensch, jedes Kind ist eine Botschaft Gottes an uns. Und jeder Mensch, auch die Kinder und Jugendlichen, sind Brüder und Schwestern Jesu. Wir sind also eine Familie, und so behandeln wir Kinder und Jugendliche.
Gerade die, die schwach sind, desorientiert, ihren Weg finden müssen, weil ihre Familie zerbrochen ist, weil sie krank sind, behindert sind: sie brauchen die besondere Zuwendung, die besondere Liebe. Und das ist auch immer erfahren worden in den Einrichtungen. Die Zeugnisse darüber sind ja vielfältig und dafür sind wir dankbar, und das müssen wir in die Zukunft bringen. Die Kinder und Jugendlichen sind ein wesentlicher Teil der Zukunft! Aber wir sollen nicht denken, wir haben etwas davon, sondern es ist uns von Gott aufgetragen und wir finden diese Botschaft in Christus.
Und dazu ermutigen wir: Jeder Mensch ist Bild des lebendigen Gottes, in jedem Menschen stecken Kräfte. Und Jesu Pädagogik war so einleuchtend und klar: Glaube nur! Er ging nicht mit einer Bedrohung auf die Menschen zu, sondern mit einer Ermutigung: „Dein Glaube hat dir geholfen. Was willst du, das ich für dich tun kann?“ Das gilt eben auch für unsere Beziehung zu den Kindern und Jugendlichen.
Gerade in der „Corona-Zeit“ ist das ja ein Thema gewesen; ich habe es auch in einem Hirtenbrief geschrieben, dass da ein besonderer Blick sein muss auf die Kinder und Jugendlichen, dass wir sie gerade in dieser „Corona-Zeit“ und danach in den Blick nehmen. Ich denke, dazu haben Sie Ihre Fachtagungen und wissen, wie wir weitergehen müssen, wie wir gerade denen, die in dieser Zeit besonders betroffen waren, auch weiterhelfen können. In einer Videokonferenz habe ich bereits mit Leitungen von Alten- und Seniorenheimen gesprochen über Erfahrungen und Konsequenzen aus dieser Pandemie; auch mit Schulleitungen spreche ich darüber noch und mit Kindergärten. Wir werden weiter versuchen, vom Erzbistum her – und ich denke, das wird auch der Caritasverband tun und alle anderen, die Einrichtungen, der Landesverband – zu schauen: Was ist unsere besondere Aufgabe gerade nach der „Corona-Zeit“? Welche Kinder und Jugendlichen müssen wir besonders in den Blick nehmen? Was können wir tun? Wie können wir Ermutigung geben? Wie können wir wirklich das tun, was wir im Motto sagen: „Fragt doch mal uns!“ Das gebe ich Euch weiter als Auftrag: Fragt die Kinder und Jugendlichen, die rufen Euch zu: „Fragt doch mal uns!“ Und wenn wir in Euren Einrichtungen und Begegnungen nachlauschen, wird schon die Piste gefunden werden, wie man in die nächsten Jahre hineingehen kann.
Das für den heutigen Dienstag vorgesehene Wort aus dem Evangelium und das Wort der Lesung scheinen gar nicht so viel mit dem Thema von heute zu tun zu haben. Hat es aber doch. Paulus spricht im Zweiten Korintherbrief von der großen Kollekte. Er ist ja überall in den verschiedenen Gemeinden gewesen, aber er hat nicht vergessen: Ich möchte auch für die Armen und Schwachen in Jerusalem eintreten. Und er sammelt dort Geld. Was später daraus geworden ist, weiß man gar nicht genau. Nachher wird davon gar nicht mehr berichtet, aber es wird sehr systematisch für die Armen gesammelt, bei denen, die in Korinth natürlich überhaupt nichts von ihnen wussten, die sie auch nie kennenlernen würden. Sie gaben Geld für Menschen, die ihnen völlig fremd, aber durch den Glauben verbunden waren. Solidarität würden wir heute sagen, Solidarität über Grenzen hinweg.
Und das gilt auch für unsere Arbeit in der Caritas und erst recht für Kinder und Jugendliche. Solidarität mit den jungen Menschen, würde ich aus diesem Wort des Apostels Paulus als Auftrag für Sie entnehmen. Das ist unser Auftrag: Solidarität mit den jungen Menschen! Und dafür auch in der Kirche Aufmerksamkeit zu wecken, das ist auch die Aufgabe des Verbandes, ebenso wie in der Politik die Aufmerksamkeit für die Kinder und Jugendlichen zu wecken und deutlich zu machen: Schaut hin auf ihre Fragen.
Im heutigen Evangelium – das ist ja ein Teil der Bergpredigt – sagt Jesus schon sehr provokativ: „Was bedeutet es, wenn ihr die grüßt, die auch euch grüßen?“ Was soll das bedeuten? Also ein Wechselverhältnis von Geben und Nehmen, ein Geschäftsverhältnis? Gibst du mir, gebe ich dir? Das ist doch nicht die Liebe, das ist nicht die Hinwendung, die ich von euch erwarte.
Zu den Kindern und Jugendlichen gewendet könnten wir sagen: Nicht einfach wieder zweckgebunden überlegen, was ich damit machen kann, was kann jemand für mich bringen, wie kann ich andere „einbauen“ in meine Pläne, in meine Ideen, in meine Überlegungen? Sondern: Was braucht dieser Mensch? Und ich gebe es ihm – absichtslos. Das steckt ja dahinter: absichtslose Liebe, die nicht wieder berechnet und nachschaut, sondern die einfach gibt.
Deswegen passen, meine ich, die beiden Texte von heute ganz gut als Auftrag. Aber über allem steht: „Fragt doch mal uns!“ Nehmen Sie das einfach mit für die nächste Zeit nach diesem 100+1 Jubiläum und halten Sie die Ohren und die Herzen auf – für die Kinder und Jugendlichen.
Amen.
[1] Die frei gesprochene Predigt wurde für die Veröffentlichung sprachlich etwas bearbeitet.