Alessio hat viel erreicht im Josefsheim: Er hat die Schule abgeschlossen, Freunde und eine Lehrstelle gefunden. Jetzt steht ihm die größte Herausforderung bevor – der Auszug aus der betreuten Wohngruppe in Wartenberg.

Eine Chance fürs Leben

Bald ist Alessio so frei im Leben wie niemals zuvor. Voraussichtlich im Frühsommer zieht er in seine erste eigene Wohnung. Ein wichtiger Meilenstein, der für den 18-Jährigen vor allem Verantwortung bedeutet. Ob er bereit ist, sie zu übernehmen? „Ich glaube, ich bin besser vorbereitet als manch anderer junge Erwachsene“, sagt er. Seit acht Jahren lebt Alessio im Josefsheim, eine heilpädagogische Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung im oberbayerischen Wartenberg. Das erste, was er über diese Zeit sagt, klingt nach einem vernichtenden Urteil: „Ich habe es hier am Anfang gehasst!“ Im Verlauf der Unterhaltung wird jedoch schnell klar: Der Jugendliche ist froh darüber, dass er ins Heim gegangen ist. Ja, er ist sogar dankbar, diese Chance bekommen zu haben. „Es war das Beste, was mir passieren konnte“, sagt er. Alessio wuchs in München auf, bei Oma und Opa. „Meine Eltern hatten keine Lust auf mich“, erzählt er. Die Großeltern kümmerten sich liebevoll um den Jungen, taten alles für sein Glück. Doch sie stießen an ihre Grenzen. Dass Alessio ADHS hat und Legastheniker ist, überforderte sie. „Meine Großeltern wussten mit mir oft nicht weiter und konnten mir auch nicht besonders gut in der Schule helfen.“ Schon lange begleitete das Jugendamt die Familie, sah die wachsenden Probleme, brachte schließlich das Josefsheim ins Gespräch: Alessio könnte dort wohnen und die angegliederte Heimvolksschule besuchen. Die Lehrer dort seien auf Kinder wie ihn vorbereitet. Kurz: Alessio bekäme in Wartenberg die Unterstützung, die er braucht. Schweren Herzens entschieden sich die Großeltern gemeinsam mit dem damals Zehnjährigen für diesen Schritt. Zum Halbjahreswechsel in der fünften Klasse, im Februar 2013, zog Alessio ins Josefsheim. Er, der Einzelgänger, lebte plötzlich mit acht anderen Jugendlichen in einer Wohngruppe, musste sich als Jüngster unterordnen. „Ich fühlte mich nicht wohl, wollte weg“, erinnert er sich. Gleichzeitig merkte Alessio, dass es ihm gut tat, im Josefsheim zu sein. Er schrieb bessere Noten, wurde ruhiger und schaffte immer öfters, sich aus Dingen rauszuhalten, die ihn nichts angingen. Vor allem stellte er fest: Seine Großeltern machten sich weniger Sorgen um ihn. „Mir war damals schon sehr wichtig, dass es meinen Großeltern gut geht, dass ich sie nicht so stark belaste.“

In der neunten Klasse gelang ihm etwas, das sein Umfeld für unvorstellbar hielt: Er schaffte den „Quali“ und wurde als einer der besten Hauptschulabsolventen im Landkreis Erding ausgezeichnet. Während viele Jugendliche nach dem Schulabschluss das Heim verlassen, wollte Alessio bleiben. „Für mich war klar, dass ich meine Ausbildung mit Unterstützung der Erzieher viel besser schaffen werde. Ich wusste, sie treten mir in den Hintern, wenn es sein muss.“ Es musste nicht sein. Ohne auch nur einmal in den vergangenen drei Jahren verschlafen zu haben, startete Alessio morgens um halb sieben mit dem Elektroroller zum rund 20 Minuten entfernten Ausbildungsbetrieb – bei jedem Wetter. Im Homeschooling bereitete er sich auf die schriftliche Gesellenprüfung im Februar vor. Äußerst gewissenhaft, denn der angehende Elektroniker für Energie- und Gebäudetechnik hat die Aussicht, nach Abschluss der Lehre übernommen zu werden. „Alessio ist ein riesiger Erfolgsfall“, freut sich Martin Hagner, Gesamtleiter des Josefsheims in Wartenberg. „Sein Beispiel zeigt, was Jugendhilfe bewirken kann, wenn alle Beteiligten an einem Strang ziehen.“ Und wenn sie einander vertrauen. Während der für ihn so schwierigen Startphase im Heim lernte Alessio Philipp David kennen, der zum engsten Vertrauten des Jungen und dessen Familie wurde. Als Bezugserzieher stand er Alessio sechs Jahre zur Seite. „Es ist ein seltener Glücksfall, einen Jugendlichen so lange begleiten zu dürfen“, sagt David.

Als Alessio im Zuge seiner Verselbstständigung im Sommer 2019 in die teilbetreute Wohngruppe Michael wechselte, endete diese Bezugserzieherschaft. Der enge Kontakt aber besteht bis heute. „Alessio besucht mich oft in seiner alten Gruppe. Er weiß: Ich bin für ihn da, wenn er Hilfe braucht“, sagt David, der den Jungen längst in sein Herz geschlossen hat. Dass Alessio seinen Weg gehen wird, daran zweifelt im Josefsheim keiner.

Matthias Holzinger (links) und Alessio (rechts)

Matthias Holzinger, der ihn fast so lange kennt wie sein Kollege David und den 18-Jährigen bei der Verselbstständigung unterstützt, meint: „Alessio hat eine extreme Entwicklung durchgemacht, auf die er stolz sein kann. Er packt das!“ Für Alessio fühlt sich der Gedanke, ganz alleine zu wohnen, mal mehr, mal weniger schwer an. Die Aussicht, dass er weiterhin vom Josefsheim in Form von ambulanter Hilfe unterstützt wird, erleichtert ihm den Abschied. Und die Gewissheit, dass Philipp David als Ratgeber und Freund seinen Weg im Leben begleiten wird.

Autorin: Beate Spindler

 

Auf eigenen Beinen stehen: Das Konzept der Gruppe „Michael“

In der teilbetreuten sozialpädagogischen Wohngruppe „Michael“ leben bis zu vier junge Männer in Einzelzimmern. Sie teilen sich die Küche und die Sanitärräume, in denen jeder eine eigene Dusche und Toilette hat. Ziel der Wohngruppe „Michael“ ist, die Eigenverantwortung der 16- bis 27-Jährigen zu fördern. Dazu gehört, dass die Bewohner mehr Rechte, aber auch mehr Pflichten haben. Sie lernen, ihren Alltag selbst zu organisieren – vom Einkaufen übers Kochen bis hin zum Putzen und Wäschewaschen – und mit ihrem Geld zu haushalten. Ein fester Bezugserzieher begleitet sie in der Phase der Verselbstständigung, die bis zu zwei Jahre dauern kann. Je nach Bedarf unterstützt er bei behördlichen Angelegenheiten, bei der Job- und Wohnungssuche oder beim Lernen auf Prüfungen.